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January 1, 2008


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Eine besondere Unterweisung, wie man den Geist gründlich untersucht.

 

Das Öffnen des Tores zur weiten Himmelsstadt

 

von

 

dem großen verwirklichten Nyingmapa-Gelehrten

Ju Mipham Gyamtsho Rinpoche (1846-1912)

 

von Dr. Klaus-Dieter Mathes

 

aus dem Tibetischen übersetzt


 

Verehrung dem Guru Manjushri!

 

1. Alles, was an Freud und Leid entstand, ist abhängig vom Geist.

Sieht man in jemandem den [eigenen] Sohn, so bedauert man seinen Tod.

Hält man [dagegen] jemanden für einen Feind,

so freut man sich über seinen Tod.

 

Auf der Grundlage von [bewußtseinsäußeren] Dingen haben sich noch nie Freude und Leid eingestellt.

Solche, die ihrem Körper verhaftet sind, beschützen den Körper.

Wer [dagegen] nicht daran anhaftet, gibt sogar den [eigenen] Körper auf.

 

2. Wer an einem Selbst anhaftet und wenig Geduld hat, den lehrt ein Rosendorn das Fürchten.

Kluge ohne Anhaftung erschrickt [dagegen noch] nicht [einmal] das Feuer der avicî-Hölle.

Deswegen hängt alles vom Geist ab.

 

Was den Geist angeht, er, der den Tatabsichten der Gewohnheiten und Gedanken

nachgeht, setzt ständig die Wellen der Vielfalt der Unterscheidungen und der Vielfalt von Freude und Leid in Bewegung.

Man denkt "Ich" und haftet an dem "Meinen" als etwas wirklichem an.

Da man an dem festhält, was [in Wirklichkeit] ohne Wesen ist, führt man eine Vielzahl von Handlungen aus.

 

3. So mancher strengt sich an im Darbringen von Opfergaben, im Lesen von Rezitations­meditationen und anderem.

Alle bemühen sich, Freude zu erlangen.

Da man aber vor allem sehr danach trachtet,

diese Freude auch in diesem Leben zu erfahren,

ist es selten, wenn sich jemand ausschließlich um das zukünftige [Leben] und die Freude der Befreiung bemüht.

 

4. Das Tor zur Erfahrung einer jeden diesseitigen Freude ist der Körper,

und der Körper ist ein unreines Werkzeug,

voller Eiter, eine Stadt der Krankeiten, durch das Alter besiegt.

Schnell vergeht er, wie der Tautropfen auf der Spitze eines Grashalmes.

 

Das Alter setzt der jugendlichen Erscheinung nach einer kurzen Zeitdauer ein jähes Ende und täglich leidet man mehr.

Die Kraft der Sinnesvermögen läßt nach, die Haare werden weiß und die Zähne fallen aus.

Welchen Nutzen haben dann noch die genußvollen Sinnesobjekte, wenn sie Erbrochenem gleichen?

 

5. In dieser degenerierten Zeit ist das Leben [ohnehin] kurz und von vielen unerwünschten Bedingungen beeinträchtigt.

Es ist nicht sicher, wann uns der Tod ereilt.

Selbst wenn wir unser Leben bis zu [seinem natürlichen] Ende führen können, ist die [verbleibende] Zeit kurz.

Warum also in erster Linie an dieses Leben [denken]?

 

6. Oh weh! Zum Zeitpunkt des Todes lassen wir selbst diesen Körper zurück

und wandern, ohne zu wissen, wohin wir gehen, an [verschiedenen] Orten umher.

Was nützen die in diesem Leben geschlossenen Freundschaften, wenn man nicht erkennen [kann], wie [sie dieses Unheil] auch nur ein bißchen abwenden könnten?

 

7. Solche, für die das Höchste in diesem Leben das Erlangen von [diesseitiger] Freude ist,

werden im Alter und zum Zeitpunkt des Todes vom Feind der Reue heimgesucht.

Ohne Nutzen haben sie dies und jenes getan und [schon] schultern sie die große Last von Sünde und Leid und gehen in die niederen Bereiche.

 

8. Da man dieses Leben für ewig hält und an einem Selbst und Freude anhaftet,

trägt man Reichtümer zusammen, umgibt sich mit Freunden, hält Feinde in Schach und rezitiert [zu diesem Zwecke] Mantras usw.

Wer mit großem Eifer [solche] Handlungen ausführt,

ist der größten aller Täuschungen [erlegen].

 

Ein jeder, der geboren worden ist,

geht von diesem Zeitpunkt an unvermeidlich Alter und Tod entgegen.

Wer mit einem solchen Feind konfrontiert [seine] Aufmerksamkeit fahren läßt

und die Beschäftigung mit den Freuden dieses Lebens für wichtiger erachtet, irrt sich.

 

9. Wenn ihr, die ihr an einem Selbst anhaftet,

noch nicht einmal das Leid eines einzigen derartigen Sterbe[vorgangs] ertragen könnt,

wer erträgt [dann] die Kette des Geborenwerdens und Sterbens in den drei niederen Bereichen und die damit einhergehenden unzähligen Leiderfahrungen?

 

Wo immer man auch geboren worden ist, und wie immer man auch etwas getan haben mag,

solange man sich nicht von diesem aus Täuschungen bestehenden Geist befreit hat, nimmt das Leid nur zu.

Lebewesen, die die Wellen der Gedanken in Bewegung halten,

haben äußerst selten die Möglichkeit der Selbstbestimmung [und] der Freude.

 

10. Viele Weltenbereiche entstehen und vergehen immer wieder,

und alle Lebewesen in den [sechs] Bereichen [darin] werden immer wieder geboren und sterben. Ich erinnere mich schon nicht mehr an all die Freude und das Leid,

das ich alleine in diesem Leben erfahren habe.

 

Die Erfahrungen all der Freuden und des Leids

in den Welten der Götter und Menschen [sowie] der unterirdischen [Bereiche] ist unausdrückbar.

Bedingte Erscheinungen sind vergänglich, verändern sich und vergehen.

Wieviel [Freude man dabei auch] erfährt, man bekommt nicht genug.

Wieviel Leid man auch [erfährt], man wird der Welt nicht überdrüssig,

und nimmt all das Leid in Kauf.

 

Ach! Schau Dir daher doch das Wesen dieses von Täuschungen [erfüllten] Geistes an!

11. Ist er fröhlich, nimmt seine Arroganz zu, und Begierden treten auf.

Leidet er, entsteht Mißmut, und er sucht Freude.

Wie es auch kommt, niemals betritt er den Pfad beständiger Freude.

Nachts wandelt er in einem Kontinuum des Leids

und die Anzahl der an einem Tag entstehenden Gedanken

sind wie Wasserwellen schwer mit einer bestimmten Größe zu beziffern.

 

Unnötigerweise unterscheidet man Aufgeben und Annehmen, Hoffnung und Furcht.

Dadurch [ergeben sich] unsagbare Schwierigkeiten, selbst handelt man sich sein eigenes Leid ein.

Die Ursache dafür, daß sich diese Gedanken, denen man in unveränderter Ohnmacht [ausgeliefert ist], ständig wie ein Rad drehen,

ist der an der Zweiheit [von Subjekt und Objekt] festhaltende Geist.

 

Ohne das Festhalten an diese Zweiheit, gibt es auch keine künstliche, im Geiste geschaffene Vielfalt.

Von dieser künstlichen, im Geiste geschaffenen Vielfalt umfangen richtet man seine Aufmerksamkeit auf Unsachgemäßes.

Indem man an ein "Ich" denkt, nimmt man Freude an und weist Leid von sich,

das Netz der Gedanken aber wird so nicht durchschnitten.

Es wird noch nicht einmal im Traum unterbrochen.

 

Prüft man es gut, ist eine derart schwere Last überflüssig.

Sie ist ein Leid, das man sich selbst aufbürdet.

Darüber hinaus gibt es nicht irgendeinen Verursacher [dieses Leids], dem man ohnmächtig [ausgeliefert ist].

Ist daher diese schwere Last, genauer betrachtet, nicht etwas schlechtes?

 

12. Man mag zwar denken, Freude und Leid ergeben sich aufgrund von [äußeren] Bedingungen,

untersucht man es aber gründlich, so sind sie vom eigenen Geist geschaffen.

 

Was immer der Geist sich auch vorstellt, derart kommt es auch.

Auf der Grundlage [bewußtseins]äußerer Dinge stellen sich weder Freude noch Leid ein.

 

13. Seit anfangloser Zeit bis zum heutigen Tage

erfährt man die Vielfalt grenzenloser Freude und Leid.

 

In Wirklichkeit [zeitigte dies] kein Ergebnis, nach einer Erfahrung blieb niemals etwas übrig,

wie bei der Erfahrung von Freude und Leid im Traum.

 

14. Den Gedanken folgend erscheint ein allgemeines Objektbild als Objekt.

In den Träumen erscheint es, als ob es klar hier ist

und während den ganzen Tageserscheinungen tritt es als wirklich existent in Erscheinung.

Alles ist [aber] Erscheinung des Geistes, nichts ausgenommen.

 

15. Alles, was immer in der ganzen Welt in Erscheinung tritt,

unwissende Lebewesen halten [diese] Zusammsetzung für beständig und ein ganzes Eines. Kritisch Denkende sehen sie als vergänglich und vielfältig.

Alles ist bewegt wie ein Blitz, das [vermeintlich] Kontinuum nimmt sein Ende.

 

16. Das durch Ursachen und Bedingungen Zusammengesetzte, was in Abhängigkeit entstehend in Erscheinung tritt, ist bloßes Erscheinen. Obwohl man es zweifelsohne erfährt,

ist dies in Wirklichkeit, wenn Gelehrte es gründlich untersuchen,

selbst als winziger Augenblick ohne Entstehen und Vergehen.

 

17. Es entsteht in Abhängigkeit der Gewohnheiten der Prägungen im eigenen Geist.

Obwohl man [dieses] bloße Erscheinen ungehindert erfährt,

gibt es kein Kommen und Gehen, wie bei einer Erscheinung im Traum.

Für jemanden, der eine Vielfalt unterscheidet, treten sie derart in Erscheinung.

Hartnäckig hält er an [diesen] Erscheinungen fest, und gewöhnt sich

an das wiederholt zustimmende oder ablehnende Beurteilen dieser.

 

Wenn Lebewesen [diesen] Zauber der Täuschungen im eigenen Geist nicht kennen,

entstehen wie die Wellen eines Flusses Ablehnen und Annehmen, Hoffnung und Furcht.

 

18. Durch die Kraft des Geistes entstanden erscheinen sie dem Geist.

Nachdem es sich der Geist vorgestellt hat, hält er hartnäckig daran fest.

Immer wieder täuscht sich der Geist angesichts der zahllosen Erscheinungen

der Welt der drei Bereiche und wandert umher.

 

19. Wenn man es gründlich überprüft, so kann man niemals feststellen,

daß die bloßen Gegebenheiten der Vielfalt ein sogenanntes Ich besitzen.

Und wenn das, was als Gegebenheiten bezeichnet wird, noch nicht einmal als Atome existiert, wer wandert dann wo umher?

 

20. Hier gibt es [nämlich] weder eine Person noch [davon getrennte] Gegebenheiten.

Während es Freude und Leid, Saôsâra und Nirvâòa,

Verstrickt- und Befreitwerden, all dies nicht gibt,

verstrickt sich der Geist selbst in Gedanken und leidet.

 

21. Die Gegebenheiten sind nicht entstanden, wie [die Spiegelung des] Mondes im Wasser.

Da sie ohne unabhängiges Wesen, formlos und ohne Anhaltspunkt sind,

wird die Dunkelheit des Saôsâra, der durch den aus Täuschungen bestehenden

Geist geschaffenen wird, erhellt,

wenn die Gegebenheiten in der Art der Leerheit in richtiger Weise erklärt werden.

 

22. Daher ist alles der Zauber des Geistes.

Wenn man sich befreit, befreit sich der Geist. Verstrickt man sich, verstrickt sich der Geist.

Ohne Geist verstrickt und befreit man sich nicht, gibt es weder Freude noch Leid,

weder Buddhas noch andere Lebewesen.

 

23. Nachdem man das Grundlegende des alles hervorbringenden Königs, des Geistes, untersucht hat,

ist in keinster Weise erwiesen, daß er irgendetwas ist.

Betrachtet man das ungehinderte Erscheinen der Formenvielfalt,

das einer illusionären Manifestation gleicht, genauer, so ist es nicht vorhanden.

 

24 Suche daher die Natur des aus reinem Vorstellen bestehenden Geistes,

ohne den Gedanken nachzuhängen!

Die Suche ergibt nichts, und hat man [ihn] grundlegend als leer bestimmt,

hat man Erscheinung und Leerheit, die Art des illusionären Geistes gesehen.

 

Die Zaubereien des von Karman-Winden bewegten Geistes

sind weder erwiesen noch widerlegt. Sucht man derart verweilend

die Grundlage, auf der [dies] seinen Anfang genommen hat,

[so ergibt sich, daß] alles aus der seit anfangsloser Zeit leeren Sphäre der großen Lichtnatur entsteht.

 

25. Sieht man durch besondere Unterweisungen, welche die Essenz des vortrefflichen Fahrzeugs sind, den natürlichen Zustand, der von keinem künstlich geschaffenen ist,

der keine Ursache und Bedingung hat, spontan entstanden und nicht bedingt ist, so ist dies die selbstentstandene Weisheit, die große Vollendung (rdzogs chen).

 

26. Aus der unbeweglichen Sphäre grundlegender Offenheit

zeigt einem [diese Weisheit] Energiemanifestationen in Form der acht Arten des Bewußtseins als Wahrnehmungen und Projektionen des Geistes. Sie sind wie Spiegelungen im Himmel.

[Derart] entfaltet sie den Zauber des großen Spiels der Vielfalt.

 

27. Sieht man diese Natur [des Geistes] nicht, dann hält man die Energie für das Selbst.

Durch Konzepte hervorgerufen weist man dann [so manches] von sich und ergreift [so manch anderes]. Beständig irrt man [derart] im Saôsâra umher.

Befreit man sich in den Energiemanifestationen selbst, indem man das wahre Wesen der Gegebenheiten, die wirkliche klare Lichtnatur sieht, wird man ein Buddha.

 

28. Hinterlasse daher, ohne [etwas] nachzuhängen, noch zu unterdrücken, im Raum keine Spur,

indem Du den Gedanken des Geistes, der mit den leeren Spiegelbildern nichtexistenter Erscheinungen versehen ist, nicht folgst!

Verweile in Dir selbst ganz natürlich und ergreife das Königreich des Dharmakâya!

 

29. Den Gedankendämon, der einen unnötigerweise in der Existenz gefangen hält,

halte ihn nicht für einen Gott und verbanne ihn nicht als bösen Geist!

[425] Indem man Äußeres und Inneres aufgegeben hat, ist man frei von Nutzen und Schaden. Lebewesen, die den König der Mittel, das vollkommen natürliche [Verweilen], sich zu eigen gemacht haben, sind glücklich.

 

Hat man das Grundlegende des alles hervorbringenden Geistes nicht gründlich untersucht,

ist alles, was immer man auch tun mag, die Ursache, sich zu verstricken.

Hat man [dagegen] das Grundlegende des Geistes untersucht, Kontrolle über den Geist erlangt,

wird man zum König aller Verwirklichungen (Siddhis) in der Welt und im Nirvâòa.

 

30. Bewegt man sich nicht aus dem himmlischen Königreich des vollkommen natürlichen [Verweilens heraus],

erscheint selbst die Zusammensetzung zahlloser Spiele [der Vielfalt] als Schmuck.

Für einen Verstand, der [jetzt] ohne Anhaltspunkt ist,

ist es nicht mehr wichtig, an etwas festzuhalten oder zu unterdrücken.

Die Unterscheidungen, die einen verstricken und Leid zufügen, sind grundlegend beseitigt.

 

31. Oh welch ein Nutzen hat all das Vortreffliche dieses Lebens, wenn man nicht zu derart großer Freude gelangt ist?

Man mag zwar [alle] Freuden und Vollkommenheiten von Saôsâra und Nirvâòa erlangt haben,

Wenn man aber die in Wirklichkeit auf Täuschungen beruhenden Erscheinungen,

die Grundlage allen Schmerzes, die Gedanken [also], nicht gründlich untersucht hat, wer ist denn dann in der Lage, Todesängste und anderes zu besiegen?

 

32. Wer sich vor nichts fürchtet, einen diamantenen Geist erlangt hat,

ist zu einem Löwen unter den Menschen geworden.

Was nun die unbeschmutzte, unbefleckte große Freude angeht,

[426] so besteht sie darin, daß man im weiten offenen Himmelsrund aufgeht.

 

Alles wird vollständig von ihr überwältigt. Sie ist der Lotoskönig und führt nicht [zu weiteren Existenzen].

 

 

Eine der acht Emanationen Padmasambhavas. Als Padmasambhava nach Uððiyâna zurückkehrte, hatten einige böswillige Minister die Macht an sich gerissen und versuchten Padmasambhava zu verbrennen. Das Feuer konnte ihm aber aufgrund seiner Realisation nichts anhaben. Die Minister übergaben ihm daraufhin das Königreich und nannten ihn fortan "Lotoskönig".

 

 

 

©Karma Lekshey Ling Institute